„Es ist Krieg“ – auch bei uns! – Predigt von Domkapitular Bieber

Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse in der Ukraine verwies Domkapitular Clemens Bieber bei seiner Predigt in Hösbach und Hösbach-Bahnhof/Winzenhohl auf die vielfältigen Formen des gewalttätigen Umgangs untereinander im Alltag. „Die Konsequenz aus den derzeitigen Ereignissen in der Ukraine … sollte ebenso die Erkenntnis sein, dass wir unserem ersehnten friedvollen Miteinander keine Ideologie, sondern eine geistige und geistliche Grundlage geben …“

Die Predigt im Wortlaut:

Es ist Krieg! Nicht irgendwo in der Welt – weit weg von uns; nein, es ist Krieg gleichsam vor unserer Haustüre. Unmittelbare Auswirkungen der schrecklichen und menschenverachtenden Ereignisse werden uns bald erreichen, wenn die direkt umliegenden Staaten nicht mehr alle Flüchtlinge aufnehmen können. Und schon jetzt spüren wir die Auswirkungen in den stark gestiegenen Preisen.

Was Corona nicht geschafft hat, bewirken die Kriegsereignisse. Die angekündigten Lockerungen hätten es ermöglicht, dass in diesen Tagen Menschen zusammenkommen, das Miteinander genießen, sich des Lebens freuen können und einfach Fastnacht feiern. Doch angesichts der bedrohlichen Situation und den Auswirkungen für den Frieden in der Welt wurden alle Feiern abgesagt.

Seit dem 1. September 1939, als Hitler-Deutschland in Polen einmarschierte, ist dies nach fast 83 Jahren der erste Angriffskrieg in Europa. Es gab zwar vereinzelt Bürgerkriege und die russischen Soldaten sind im Verein mit anderen Ostblockarmeen am 21. August 1968 in der Tschechoslowakei einmarschiert und beendeten damit den „Prager Frühling“ und vor genau acht Jahren annektierte die russische Armee die Krim. Jetzt aber rollen nicht nur Panzer, es fallen Schüsse, um ein europäisches Land in seiner Gänze von einer fremden Macht anzugreifen mit dem Ziel, eine demokratisch legitimierte Regierung zu entmachten. Dabei droht Putin mit schrecklichsten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sich ein anderes Land in den Weg stellt oder gar in den Konflikt eingreifen würde. Nie gab es in der Geschichte unseres Volkes eine so lange Phase ohne Krieg, ohne Auseinandersetzungen zwischen zwei Nationen, die auf Schlachtfeldern ausgetragen wurden. Vielleicht – so mutmaßen manche – war die Zeit von 77 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu lange, um eine Vorstellung zu haben, was Krieg und seine Auswirkungen bedeuten.

Ich erinnere mich an meine Predigt damals als Kaplan in Schweinfurt. Es ging um den 50. Jahrestages des Angriffs auf Polen, denn damit begann der Zweite Weltkrieg. „Die Vorbereitungen für den nächsten Krieg beginnen, wenn die Auswirkungen des letzten Krieges vergessen sind!“, so meine Mahnung damals bei einem Jugendgottesdienst im Jahre 1989.

Über Nacht wird uns vor Augen gestellt, wie zerbrechlich der Friede ist, in dem wir uns wähnen und in dem wir uns bewegen. Doch bei genauer Betrachtung unserer Lebenssituation wird deutlich, wir erleben schon Jahrzehnten intensiv Krieg – nicht nur in vielen Ländern der Erde, sondern auch bei uns. Spätestens mit der Verbreitung der modernen sozialen Kommunikationsformen hat der Pranger, an den Menschen gestellt und fertig gemacht werden, wieder Einzug gehalten in unser Miteinander! Nehmen wir nur die Kommentierungen zu Nachrichten und Meldungen aus der Politik. Bei den vielfach unsäglichen Aussagen – zumeist aus der anonymen Deckung – geht es weniger um die Sache als um Menschen, die diffamiert werden oder gar Todesdrohungen erhalten usw. Immer mehr Bundes- und Landespolitiker brauchen Personenschutz. Wie viele Bürgermeister und Landräte wollen nicht mehr kandidieren, weil sie die Anfeindungen für sich und ihre Angehörigen leid sind – und das auf kommunaler Ebene.

Es gehört heute schon zum Standard für Menschen in einer besonderen Verantwortung ob im gesellschaftlichen Bereich, ob in Kirche oder Schule, ob in der Wissenschaft oder Wirtschaft und Arbeitswelt: Wenn irgendjemand sich an diesen Personen reibt oder sich über irgendetwas an ihnen ärgert oder nicht passend erscheint, werden diese Personen zumeist anonym verleumdet und viele Redaktionen scheinen froh zu sein, wenn sich ihnen – ohne dass irgendetwas bewiesen ist – die Möglichkeit für eine Schlagzeile bietet.

Die Spirale der Gewalt geht weiter: Wie oft leben Kinder in Angst, weil sie von anderen Kindern oder Heranwachsenden gemobbt werden! Im Streit befindliche Nachbarn oder Verwandte denunzieren einander z.B. beim Arbeitgeber.
Kurzum: Auf allen gesellschaftlichen Ebenen, in allen sozialen Schichten werden ständig Kriege geführt. Wenn jemand eine andere Meinung hat, dann wird er als uneinsichtig abgetan.
Ich will jetzt gar nicht von den Gewaltexzessen selbst im unmittelbaren zwischenmenschlichen Bereich reden, von denen wir immer häufiger hören und lesen.

Am vergangenen Mittwoch bin ich zufällig als Zuschauer in die sogenannte „Münchner Runde“ im BR-Fernsehen geraten und habe die Diskussion am Bildschirm mit Erschrecken verfolgt. Junge Klimaaktivisten hatten durch die live übertragene Diskussionsrunde, in die eine Vertreterin eingeladen war, sogar eine große Bühne, um vor einem Millionenpublikum ankündigen zu können, dass sie in den nächsten Tagen nicht nur weitere Straßen blockieren, sondern im Bereich großer Flughäfen im Land in den Luftraum eindringen werden, um den Flugverkehr lahmzulegen. In diesem Zusammenhang wurden und werden Ultimaten an die Politik gestellt und noch radikalere Maßnahmen angekündigt.

Als erschreckend empfand ich, dass eine in der Diskussionsrunde anwesende Spitzenpolitikerin Verständnis formulierte und die Klimaaktivistin in Schutz nahm, während ein älterer, sehr erfahrener Politiker darauf hinwies, dass dies nicht nur nicht rechtens sei und viele Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränke, sondern auch einer Meinungsdiktatur gleichkäme, weil eine sehr kleine Minderheit versuche, dem Großteil der Bevölkerung ihre persönliche Überzeugung aufzuzwingen. Deshalb riet er, sie solle sich in der Politik engagieren, für ihre Meinung werben und bei den nächsten Wahlen versuchen, dafür auch eine Mehrheit zu erhalten. Darauf kam die Antwort, dass sie dafür keine Zeit mehr habe und die Politik mit ihrer in Klimafragen zu langsamen Vorgehensweise sie zwinge, solche Maßnahmen zu ergreifen. Schuld für ihr Verhalten und ihre Aktionen habe also die Politik.

Aber nicht nur im Bereich der Politik herrscht immer mehr verbale Gewalt. Wie viele Lehrerinnen und Lehrer sind es leid, ständig von Eltern beschimpft zu werden. Wie viele Journalisten, Redakteure maßen sich an, letztverbindliche Urteile über andere zu sprechen. So habe ich jetzt erst wieder in einer großen deutschen Tageszeitung die ultimative Rücktrittsforderung gegen einen Bischof gelesen.

Abgesehen von möglicherweise höheren Auflagenzahlen oder Einschaltquoten wird auf jeden Fall Stimmung gemacht, selbst wenn nicht alles der Wahrheit entspricht oder wirklich erforscht ist. Im alten Beichtspiegel meiner Kindertage war für die Gewissenserforschung nicht nur die Frage vorgesehen, ob ich immer wahrhaftig und aufrichtig war, sondern auch die Frage, ob ich Fehler von anderen ohne Not weitergesagt habe. Von dieser barmherzigen Haltung im Umgang miteinander entfernen wir uns in unserer Gesellschaft mehr und mehr.

Genau darauf zielt Jesus ab mit seinem Wort im heute verkündeten Evangelium: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“

Es geht um die Glaubwürdigkeit, die es unbedingt braucht, damit die Menschen in einer Gesellschaft miteinander leben und umgehen können. Das mahnt Jesus an: „Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte hervorbringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte hervorbringt. Jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: … Ein guter Mensch bringt Gutes hervor, weil in seinem Herzen Gutes ist; und ein böser Mensch bringt Böses hervor, weil in seinem Herzen Böses ist. Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund.“

Von daher lässt sich vielleicht erahnen, was das Herz und das Denken des Wladimir Putin und seiner Gefolgsleute erfüllt, und warum sie militärische Maßnahmen ergreifen, um entsprechend ihrem selbst zurechtgelegten Geschichtsbild die Welt und das Leben im Osten Europas neu zu ordnen, schlimmer noch, dass sie auch den Zusammenhang der Länder im Westen Europas neu konstruieren wollen.

Es hilft nicht, uns mit Aussagen wie „ein lupenreiner Demokrat“ aufzuhalten. Wir sollten uns zunächst darüber klar werden, dass Krieg nicht erst beginnt, wenn Schüsse fallen, sondern schon dort beginnt, wo Menschen einander Gewalt antun – in welcher Form auch immer. Wenn uns das klar wird, dann gewinnen wir die Einsicht, dass die Erziehung zum Frieden in Familie, Schule, Kirche und Gesellschaft nicht mit einer Ideologie begründet werden kann, sondern ein geistiges und geistliches Fundament braucht.

Ein Mensch und damit auch eine Institution, die von Menschen getragen und verantwortet wird, wird stets Fehler machen. Es muss dann aber deutlich werden, dass aus Fehlern gelernt und versucht wird, dies im besten Sinne des Wortes wieder gut zu machen. Wir sind als Menschen nie vor Fehlern gefeit, umso mehr kommt es darauf an, barmherzig miteinander umzugehen und so Besserung zu ermöglichen. Schlimm und unmenschlich sind die Systeme, die angeblich keine Fehler machen, aber genau deshalb zutiefst blind sind und die Fehler anderer radikal auszumerzen versuchen.

Um das Wort Jesu im Evangelium aufzugreifen: Ein Blinder kann keinen Blinden führen. Wenn aber ein Mensch Einsicht in seine eigenen Fehler hat, kann er zunächst sein eigenes Verhalten verbessern. Dann kann er mit den Fehlern anderer so umgehen, dass auch sie Einsicht in ihr Fehlverhalten gewinnen. Daraus wiederum erwachsen ein Neuanfang und ein lebenswertes Miteinander.
Die Konsequenz aus den derzeitigen Ereignissen in der Ukraine sollte nicht nur in unserer Hilfe für die von diesem verrückten Krieg bedrohten Menschen sein, eine wesentliche Konsequenz sollte ebenso die Erkenntnis sein, dass wir unserem ersehnten friedvollen Miteinander keine Ideologie, sondern eine geistige und geistliche Grundlage geben, und die beginnt bei der Erziehung und Prägung der inneren Haltung, die wir hoffentlich nicht allein dem Zeitgeist und den Medien, die rund um die Uhr über ihn berichten, überlassen!

Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
(
Direkter Link zur Quelle)


Text zur Besinnung

Mit den Augen Jesu sehen

Mit den Augen Jesu sehen,
meine eigene Blindheit,
meine Gruben, in die ich mich verrannt habe.

Mit den Augen Jesu sehen,
meinen Balken im eigenen Auge,
meine Disteln und Dornen im Herzen.

Mit den Augen Jesu sehen,
die Splitter in den Augen der anderen,
die schlechten Früchte an den Bäumen des Lebens.

Mit den Augen Jesu sehen,
mich anschauen lassen von ihm,
tief drin im Herzen.

Mit den Augen Jesu sehen,
und so Ansehen erlangen,
vor ihm und anderen.

Mit den Augen Jesu sehen,
und neu sehen lernen,
mich, die anderen und IHN.

(Autor unbekannt)


Katholische und evangelische Gemeinden, Vereine und Verbände in Aschaffenburg laden am Aschermittwoch, 02. März 2022 um 18 Uhr zu einem Ökumenischen Friedensgebet in der Treibgasse zwischen Agathakirche und Martinushaus ein.

Friedensgebet 22 k